Schülerinnen und Schüler des aktuellen Abiturjahrgangs beim Zeitzeugenbesuch in Steinbach/Taunus. In der Mitte der 1943 ins Kinder-KZ nach Potulitz verschleppte Mieczysław Grochowski, ganz rechts im Bild Geschichtslehrer Hans Peter Wavra.
Lioba-Abiturienten treffen mit polnischen Zeitzeugen aus der NS-Besatzungszeit zusammen
Nach zweijähriger Pause hatte der Abiturjahrgang der Sankt Lioba Schule wieder die Gelegenheit, mit polnischen Zeitzeugen zusammenzukommen, die Opfer der NS-Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs waren. Begleitet wur-den die Schülerinnen und Schüler von ihren Geschichtslehrern Karolin Grisard, Joseph Marmion, Sabrina Willershäuser und Hans Peter Wavra, der die Veranstaltung, die seit vielen Jahren vom Bistum Mainz angeboten wird, organisierte.
Insgesamt drei Zeitzeugen berichteten in Steinbach/Taunus vor verschiedenen Schülergruppen über ihre traumatischen Erlebnisse.
Der aus einer gemischtsprachigen Gegend (Deutsche, Polen, Kaschuben) stammende und perfekt Deutsch sprechende 85jährige Mieczyslaw Grochowski war mit Teilen seiner Familie, die das Angebot, germanisiert zu werden, abgelehnt hatte, 1943 nach Potulitz, dem größten Kinder-KZ in Polen, verschleppt worden. Dort musste die Familie unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen über ein Jahr leben. Kurz vor der Befreiung durch die anrückende russische Armee wurden die völlig abgemagerten und kranken Kinder aus dem Lager entlassen. Nach einem kurzen Aufenthalt bei der Familie seiner Tante kam Herr Grochowski wieder mit seiner Familie zusammen, die bis auf den Vater Krieg und Besatzung überlebt hatte. Er wählte den Beruf des Elektrikers und entdeckte die Liebe zum Trompete spielen. Später war er über Jahrzehnte Mitglied des Marine-orchesters der polnischen Armee und konnte so auch während der kommunistischen Diktatur ins Ausland reisen. Mit einer Deutschen verheiratet lebt er heute bei Danzig und in Berlin. Mieczyslaw Grochowski bestritt jegliche Kollektivschuld der heute lebenden Deutschen für das damalige Geschehen, warb für Frieden und Aussöhnung und machte deutlich, dass man bei der Betrachtung der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs auch nicht die danach folgende brutale Diktatur der Kommunisten unter russischer Ägide vergessen dürfe. Abschließend gab er seinem Schülerauditorium noch ein Debüt als Trompeter.
Die aus Südpolen stammende 1938 geborene Josefa Posch-Kotyrba war mit ihrer Familie 1943 von der Gestapo verhaftet worden, da diese sich weigerte, als polnisch gesinnte Oberschlesier germanisiert zu werden und der Vater zudem im polnischen Untergrund wirkte. Nach Einweisung in verschiedene Gefängnisse wurde die Familie getrennt, die Kinder kamen schließlich in das Kinder-KZ in Potulitz und mussten dort ebenfalls unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten; die Mutter starb später in Auschwitz-Birkenau, der Vater wurde als Untergrundkämpfer erschossen. Nach der Befreiung erfuhr die Großmutter, dass ihre Enkel überlebt hatten und holte sie zu sich. Frau Posch-Kortyrba machte später ihr Abitur an einer Internatsschule für jugendliche Waisen und arbeitete nach einem erfolgreichen Studium an der Pädagogischen Hochschule in Krakau bis zu ihrer Pensionierung über dreißig Jahre lang als Mathematiklehrerin in ihrer Heimatstadt Jaworzno. Nach dem Tod ihres ersten Manns heiratete sie einen Mann, der während des Zweiten Weltkriegs ein ähnlich geartetes Schicksal durchgemacht hatte. Sie engagiert sich heute in einem Verein zur Unterstützung ehemaliger Häftlinge.
Mikołaj Skłodowski trat zum ersten Mal in einer Veranstaltung des Bistums Mainz als Zeitzeuge auf. Seine Familie wurde im August 1944 nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands verhaftet und in Konzentrationslager deportiert, wobei die weiblichen Mitglieder nach Ravensbrück bzw. in das Außenlager Neubrandenburg gebracht wurden. In Ravensbrück gebar die hochschwangere Mutter im März 1945 kurz vor Kriegsende ihren Sohn Mikolaj unter unmenschlichen Bedingungen. Er war eins von über 800 Kindern, die zwischen 1938 und Kriegsende im KZ zur Welt kamen – nur 39 überlebten. Nach der Befreiung gelangten Mutter und Sohn durch eine Hilfsaktion des Internationalen Roten Kreuzes nach Schweden, wo sie sich langsam von den Folgen ihres KZ-Aufenthalts erholen konnten und dann Ende 1945 nach Polen zurückkehrten. Herr Sklodowski nahm später ein Lehramtsstudium auf und wurde schließlich katholischer Priester. Er wohnt heute in Zoppot bei Danzig und ist zurzeit stellvertretender Vorsitzender des Polnischen Häft-lingsverbands.
Im Anschluss an die Vorträge entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch der durch die Er-zählungen vielfach emotional berührten Schülerinnen und Schüler mit den Zeitzeugen. Allen Beteiligten ist klar, wie wichtig solche Zusammentreffen mit Zeitzeugen gerade in der heutigen Zeit sind, nicht allein wegen der immer größeren zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen vor achtzig Jahren, sondern auch weil die Zahl derer, die uns authentisch darüber berichten können, von Jahr zu Jahr geringer wird, weshalb die Sankt Lioba Schule auch weiterhin größten Wert auf die Durchführung solcher Veranstaltungen legt.
Hans Peter Wavra