Professorin Claudia Kraft informierte Abiturjahrgang
Deutschlands Beziehungen zu seinen östlichen Nachbarn, insbesondere zur ehemaligen Tschechoslowakei und zu Polen, waren von besonderer Art. Warum dies so war und was sich mittlerweile geändert hat, stellte kürzlich die renommierte Osteuropa-Historikerin Prof. Claudia Kraft dem diesjährigen Abiturjahrgang in der Aula der St.-Lioba-Schule vor.
Schulleiter Dr. Tobias Angert begrüßte den Gast und erinnerte daran, dass sie selbst ehemalige Schülerin der Schule war und mittlerweile in Forschung und Lehre für "Europäische Zeitgeschichte nach 1945" an der Universität Siegen tätig sei. Er dankte ihr herzlich für ihr Kommen sowie dem Geschichtslehrer Hans Peter Wavra, der die Kontakte geknüpft und den Vortrag organisiert hatte.
Wavra bezeichnete die derzeitigen Beziehungen unseres Staates zu seinen osteuropäischen Nachbarländern "in den letzten zwei Jahrzehnten als überwiegend gut und weitgehend störungsfrei". Zugleich stellte er fest, dass Prag etwa so weit entfernt von Bad Nauheim sei wie Paris, Warschau und Budapest sogar näher als Rom, Moskau nicht weiter weg sei als Lissabon oder Athen. Dennoch sei die Entfernung Richtung Osten von seiner Generation und wohl auch der derzeitigen mental als sehr viel größer empfunden worden. Dies hänge nicht zuletzt mit dem vom englischen Premierminister Winston Churchill so genannten "Eisernen Vorhang" und dem auf die Verbrechen des Naziregimes folgenden Kalten Krieg zusammen .Insbesondere die Beziehungen zu Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei seien extrem stark von Vorurteilen aufgrund von Verbrechen teils unvorstellbaren Ausmaßes geprägt gewesen. Darüber werde Prof. Kraft ebenso berichten wie über die nicht selbstverständliche Leistung der Politiker und Völker, zu einer Aussöhnung zu kommen.
Diesem hohen Anspruch wurde Prof. Kraft in ihrem knapp einstündigen Vortrag, der hinreichend Zeit zum Gespräch ließ, voll gerecht. Zunächst verblüffte sie das Auditorium mit der Einschätzung, dass der von allen Geschichtslehrern gerne geäußerte Satz, man könne "aus der Geschichte lernen", nur dann stimme, wenn man ihn so verstehe, dass historische Erfahrungen nicht 1:1 auf Gegenwärtiges übertragen werden könnten. Das hänge mit dem ungeheuer großen Potenzial des Faches Geschichte zusammen: Nichts müsse bleiben, wie es ist. es gebe keine Gesetzmäßigkeiten, sondern oft ungeahnte Entwicklungen in alle möglichen Richtungen. Der Kalte Krieg sei etwa die logische Folge der Situation von 1917, auch seien nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der 1940er-Jahre noch andere Optionen möglich gewesen. Unbestritten sei, dass der Vernichtungsfeldzug der Nazis mit der Vernichtung von Eliten, dem Holocaust und der Massenverschleppung von Zwangsarbeitern die Nachkriegserfahrungen von Russen, Polen, Weißrussen und Ukrainern stark strukturierte. Gelitten habe insbesondere die Zivilbevölkerung. Dies habe nach dem Ende der Kriegshandlungen eine Kette von Gewalttaten und damit neue Verbrechen ausgelöst, wie die Millionen Vertriebenen erleben mussten. Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus seien die osteuropäischen Staaten durch die Sowjetunion sofort einer neuen Besatzung unterworfen worden. So sei es dazu gekommen, dass diese Staaten wie Kriegsverlierer ausgesehen hätten, während Deutschland schnell wieder, vor allem ökonomisch, in den Westen integriert worden sei. Die deutsche Frage sei immer mit der europäischen und weltpolitischen Lage verbunden gewesen und ihre Globalisierung habe stets auch mit den deutschen Verhältnissen, nicht zuletzt mit der Situation Berlins, zu tun gehabt. In Berlin sei über den Weltfrieden entschieden worden. Hier habe sich Stadtpolitik mit Weltpolitik verbunden.
Die Überwindung der deutschen Teilung sei Ergebnis eines nicht vorhersehbaren Wandels gewesen. Nach der Kubakrise 1962 seien die Staaten zur Vernunft gekommen. Ein Bedürfnis nach Sicherheitsmaßnahmen und Kommunikation und die Erkenntnis, wegen Berlin keinen Atomkrieg zu riskieren, habe geholfen, die Entspannungspolitik durchzusetzen. Sichtbare Zeichen seien etwa die KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 und das Passierscheinabkommen mit der DDR gewesen. Brandts " Wandel durch Annäherung" sei Ausdruck einer Prioritätenverschiebung gewesen: "Humanitäre Dinge wurden wichtiger als der Status Berlins". Im Westen habe man nicht zur Kenntnis genommen, dass die Dissidenten die Entspannungspolitik sehr kritisch im Sinne einer Festschreibung der kommunistischen Führung gewertet hätten. Deren Ziel sei vielmehr ein demokratisches Europa ohne Kommunisten gewesen. In dieser Zeit habe sich auch gezeigt, dass ein struktureller Wandel nur bedingt durch historische Persönlichkeiten gelenkt werden könne. Zweifellos sei der Korb 3 "Menschenrechte" der KSZE vernachlässigt worden. Selbst der heute als vorbildlich geltende Helmut Schmidt habe damals die sicherheitspolitischen Aspekte klar in den Vordergrund gestellt und "Menschenrechte ein zweifelhaftes Konzept" genannt.
Im Dialog mit engagierten und gut vorbereiteten Schülern verwies Prof. Kraft auf das heutige multipolare System, regional nicht mehr eingrenzbare Gegner und einen völlig geänderten Standpunkt in Menschenrechtsfragen.Heute rede man offen miteinander.
Beste Werbung für das Unterrichtsfach Geschichte und viel Applaus für die kompetente Referentin, bei der sich Hans-Peter Wavra noch mit einem Geschenk bedankte.