Folgen des 1. Weltkriegs auch heute noch spürbar
Eine Diskussion um den zum Vortrag geladenen Referenten war diesmal an der St.-Lioba-Schule völlig überflüssig. Die gab es am Freitagvormittag im Musiksaal erst nach den spannenden, kurzweiligen und nicht zuletzt bereichernden Ausführungen des Gastes in Anwesenheit von Prof. Dr. Alexander Demandt, der Geschichts- und Lateinlehrer Hans Peter Wavra bei der Kontaktaufnahme unterstützte, und von Achim Güssgen-Ackva von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, die einen wesentlichen Teil der Finanzierung trug. Nach der freundlichen Begrüßung durch Schulleiter Bernhard Marohn stellte Wavra den in Friedberg geborenen und jetzt in Berlin lebenden und lehrenden Prof. Dr. Herfried Münkler den Mädchen und Jungen aus dem Jahrgang Q 2 als eine „herausragende Koryphäe seines Fachs“ vor, mit wissenschaftlichen Schwerpunkten auf dem Feld der politischen Theorie, Ideen-, Kultur- und Kriegsgeschichte. Wavra versprach neue Denkansätze zum 1. Weltkrieg, den er „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte. Eine Erwartung, die Münkler glänzend rechtfertigte.
Münkler bezeichnete die „unzureichende Wahrnehmung des Faktors Zeit“ als eine Schwäche der Forschung zum 1. Weltkrieg, nicht zuletzt bedingt durch das Fehlen komparativer Analysen. Bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, warum die beteiligten Akteure so und nicht anders handelten, spiele das eigene Empfinden eine oft unterschätzte Rolle .Entscheidend sei nicht, ob das Deutsche Reich tatsächlich eingekreist war, sondern dass es sich eingekreist fühlte, ähnlich wie Putin von der EU in der Ukrainefrage. Alle klugen Köpfe, hier nannte der Referent etwa Friedrich Engels in den 1890er Jahren und namhafte Ökonomen, hätten vor dem Krieg gewarnt und als dessen Folge eine Katastrophe für Europa vorhergesagt. Trotzdem hätten alle Beteiligten „ihren Schlieffenplan“ gehabt, und alle Pläne seien wie dieser gescheitert. Vermittlungschancen für ein Kriegsende, das noch im Herbst 1914 möglich gewesen wäre, gab es laut Münkler nicht: „Es gibt keinen Dritten, weil Großbritannien in den Krieg eingetreten ist.“ Ausführlich setzte sich der Friedberger Politikwissenschaftler mit den auch im Geschichtsunterricht oft gebrauchten Begriffen der „Nibelungentreue“ und des „Blankoschecks“ auseinander und stellte dem Begriff des „kalkulierten Risikos“ auf deutscher Seite den der „melancholischen Verzweiflung“ entgegen.
Direkte Folgen des 1. Weltkriegs zeigen sich nach Münklers Ansicht noch heute in Südost- und Osteuropa und im Nahen Osten, nach dem Untergang der multinationalen und -lingualen Großreiche und ihrer Nachfolger wie der Sowjetunion, Jugoslawien und dem Osmanischen Reich. Heute wie damals stehe die Politik vor dem Problem eines Handelns im Ungewissen. „Wenn diese Räume in den nächsten 20 Jahren nicht stabilisiert werden, werden sie über uns hereinbrechen“, schloss Münkler seinen Vortrag von akademischem Niveau, der allen im Publikum in bester Erinnerung bleiben wird. Unterstrichen durch lang anhaltenden Beifall. Auch nach dem Vortrag stand der Referent für Gespräche mit den Jugendlichen zur Verfügung.
Dr. Hans-Wolfgang Steffek (Foto: Steffek)