Ich erinnere mich noch gut an meine Jugendzeit: die Siebziger! „Die gute alte Zeit“ waren diese unruhigen, ideologisch aufgeladenen Jahre sicher nicht. Eines aber war damals in der Mehrheit der Gesellschaft unumstritten: der Karfreitag galt als hoher, stiller Feiertag. Selbst mein damaliger Lieblingssender, SWF 3, spielte den ganzen Tag über nur getragene Blues-Musik.
Das hat sich in den Achtzigern, Neunzigern und Zweitausendern deutlich verändert. Der Karfreitag als stiller Feiertag ist in einer immer unkirchlicher werdenden Gesellschaft in die Diskussion geraten. „Warum soll man nicht an dem freien Tag zum Tanzen in einen Club gehen?“, fragen Jugendliche und junge Erwachsene.
Ein Tag, der die dunklen Seiten des Menschen und des Lebens in den Blick nimmt, scheint in eine Welt des „Funs“ und der „Events“ nicht zu passen.
Ich sagte „scheint“; möglicherweise ist das Imperfekt mittlerweile angebrachter. Die Corona-Pandemie hat uns nämlich eindrücklich bewusst gemacht, wie zerbrechlich und gefährdet all das ist, was wir bisher für völlig normal und selbstverständlich hielten. Das Zurückstellen von Wünschen und Ansprüchen gehört mit einem Mal zum Leben, ja sogar das Krankwerden und Sterben lässt sich nicht mehr verdrängen und unterbezahlte Menschen, die sich um Kranke und Sterbende kümmern, werden zu „Helden“!
Am Karfreitag erinnern sich die Christen nicht nur im Sinne eines Gedenktages an den Tod Jesu. Sie sehen im Kreuz das Zeichen dafür, dass sich Gott sichtbar auf die Welt eingelassen hat - mit allen Konsequenzen. Das Durchkreuztwerden von Hoffnungen und Plänen, das Schwachsein und auch das Leiden sind Bestandteile des Lebens, über die man nicht hinwegfeiern muss. Christen vertrauen auf einen Gott, der nicht nur Mitleid hat, sondern mitleidet, wenn Menschen sich ganz unten fühlen, in Enttäuschung, Schuld, Traurigkeit und Schmerzen.
Auf die Frage, warum uns die dunkle Seite des Lebens nicht erspart bleibt, gibt auch der Karfreitag keine Antwort.
Manchmal ahnen wir, dass wir das Schöne und Heile in der Welt nicht erkennen und schätzen würden, wenn es das Traurige und Unheile nicht auch gäbe. Aber das allein erschließt uns nicht den Sinn.
Das Unbegreifliche, Nicht-Fassbare in unserem Leben müssen wir aushalten. Der Karfreitag aber sagt uns, dass wir uns gerade an den Kar-tagen, den traurigen, dunklen Tagen unseres Lebens von Gott verstanden, angenommen und getragen fühlen dürfen.
Einen gesegneten, stillen und besinnlichen Karfreitag wünscht
Ihr/Euer
Ernst Widmann (Schulpfarrer, Sankt Lioba Schule, Bad Nauheim)