Ex-Ministerpräsident Bernhard Vogel zu Gast an der St.-Lioba-Schule
Erfolgreicher Politiker als Zeitzeuge - Von der NS -Zeit zur Wiedervereinigung
Wie kaum ein zweiter bundesdeutscher Politiker hatte der CDU-Politiker Bernhard Vogel Gelegenheit, die deutsche Geschichte von der Zeit des Nationalsozialismus über das geteilte Deutschland bis zur Wiedervereinigung zu erleben. Wie Geschichtslehrer Hans Peter Wavra in einer kurzen Einführung feststellte, der den mittlerweile zweiten Besuch Vogels an der St.-Lioba-Schule organisiert hatte, von seinem CDU-Eintritt 1960 bis zu seinem Rückzug 2003 ins Privatleben viele Jahre davon in der ersten Reihe der deutschen Politik. Über 100 Schülerinnen und Schüler bildeten das Auditorium, das im Großen Musiksaal dem Gast aufmerksam lauschte und anschließend mit einer Reihe von Fragen sein Interesse bekundete.
Wavra machte dabei deutlich, dass der von den heutigen Jugendlichen als Normalität empfundene Zustand auch heute eine Ausnahme im Sinne eines Privilegs sei. Man müsse nur nach Syrien und Afrika schauen, um festzustellen, dass Jugendliche vielerorts nicht nur um das tägliche Brot, sondern um ihre nackte Existenz kämpfen müssten.Von der Biographie des am 19.12.1932 in Göttingen geborenen Vogel ausgehend, sei es der totalitäre NS-Staat gewesen, der seine Kinderjahre prägte. Zwei Weltkriege, die brutale NS-Diktatur und für 17 Millionen Deutsche bis 1989 die kommunistische Diktatur in der DDR hätten das 20. Jahrhundert gezeichnet, nur wenigen sei ein Heranwachsen in Frieden und in der Geborgenheit der Familie vergönnt gewesen.
Vogel, der das Alleinstellungsmerkmal besitzt, als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen gleich in zwei Bundesländern "Landesvater" gewesen zu sein, stellte zunächst den zwischen Zeitzeugen und Historikern bestehenden Unterschied klar. Während der Historiker versuche, aus allem Detailwissen um eine bestimmter Zeit ein objektives Gesamtbild zu erstellen, sei die Sichtweise eines Zeitzeugen selbst beim Bemühen um Objektivität subjektiv geprägt. Viele hätten zunächst nicht begriffen, dass der Aufschwung unter Hitler nur wegen der Hochrüstung und Kriegsvorbereitung möglich gewesen sei. Hitlers Judenverfolgung aufgrund eines ethnischen Merkmals, das man nicht ändern konnte, sei mit dem damit verbundenen Rassenwahn etwas Neues gewesen. Die Diktatur habe alles fest im Griff gehabt, und Widerstand sei besonders schwer gewesen, solange die Wehrmacht erfolgreich kämpfte. Eine Bemerkung seiner Mutter nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen habe ihn nachdenklich gemacht: "Im Ersten Weltkrieg hätten wir uns darüber gefreut."
Zu den Widerstandskämpfern vom 20.Juli 1944 bemerkte Vogel, dass die NS-Propaganda bis in die 1950er-Jahre wirkte, da man sich schwer getan habe, deren Aktionen anzuerkennen. "Vielleicht," so Vogel, "sei der Misserfolg der größte Erfolg gewesen". Eine neue Dolchstoßlegende hätte auch angesichts des in eine Trümmerlandschaft verwandelten Deutschlands keine Chance gehabt. Ausdrücklich würdigte der Ex-Ministerpräsident auch die "Weiße Rose" und besonders Alexander Schmorell. Die verhängnisvolle Nikolaus-Bombennacht 1944 in Gießen habe er im Luftschutzkeller überlebt. Bis 1945 habe er nicht hungern müssen, aber von da an bis 1947 seien es harte Hungerjahre gewesen.
Falsch sei es laut Vogel, die Einführung der Demokratie in Deutschland so darzustellen, als sei sie auf amerikanischen Druck erfolgt. Über die "Einwohner von Trizonesien" spannte Vogel den Bogen bis zu dem Hinweis, dass es sich mit den "alten" und "neuen" Bundesländern genau umgekehrt verhalte. Die alten seien die in der DDR gelegenen, die neuen die im Westen auf Initiative der Besatzungsmächte entstandenen. Während er wegen Adenauer in die Politik gesangen sei, sei sein ebenfalls Politiker gewordener Bruder Hans-Jochen als Bewunderer Kurt Schumachers in die SPD eingetreten. Hans-Jochen brachte es immerhin, wie Wavra in der Einführung schon bemerkt hatte, u.a. zum langjährigen Oberbürgermeister von München, zum Bundesvorsitzenden der SPD, zum Regierenden Bürgermeister von Berlin und zum Bundesjustizminister. Als gemeinsamen Rückblick auf ihr Politikerleben verfassten die Vogel-Brüder 2007 das Werk "Deutschland aus der Vogelperspektive".
Auf Fragen der Schüler berichtete Vogel des Weiteren, wie er in der Bombennacht in Gießen Todesangst empfand und wie er vom Mauerfall während eines Besuchs in Polen mit der Delegation um Kanzler Kohl überrascht wurde. Zu den Koalitionsverhandlungen der in Berlin regierenden "Physikerin" erklärte er, dass keiner den anderen so verbiegen dürfe, dass man ihn nicht wiedererkennen könne.
Den Schülerinnen und Schülern riet er, Mut zu haben, die Probleme anzugehen, denn die Geschichte der letzten 60 Jahre habe gezeigt, dass man durch Anpacken alle lösen könne. Viel Beifall der Schülerschaft und der Dank des Schulleiters, in den er auch ausdrücklich Wavra mit einbezog, nebst Geschenken in Form von Rebensaft dürften Bernhard Vogel gezeigt haben, dass aller guten Dinge auch drei (Besuche) sein können... (Text/Fotos: Dr.Steffek)