Wenn man auf den sowjetischen Diktator Josef Stalin und dessen Verbrechen zu sprechen kommt, dessen Regime zumal in Friedenszeiten den Tod von möglicherweise Dutzenden von Millionen Menschen zu verantworten hat, fragen Schüler häufig verwundert, weshalb man im Gegensatz zu der Adolf Hitlers so wenig über Stalins grausame Herrschaft informiert werde.
Dies hat natürlich mannigfaltige Gründe. Ein solches Informationsdefizit zu reduzieren schickte sich unlängst die Siegener Osteuropahistorikerin Prof. Dr. Claudia Kraft an, die auf Einladung des Geschichtslehrers Hans Peter Wavra vor Abiturienten eines Leistungs- und Grundkurses Geschichte an der St. Lioba-Schuler referierte. Schwerpunkt war dabei die Betrachtung die Stalinisierung in den 1945 in Osteuropa eingerichteten Satellitenstaaten der UdSSR.
Frau Kraft teilte die Errichtung stalinistischer Regime in 2 Phasen ein: Eine erste Phase, die von 1945-1948/49 andauerte, in der Stalin sozusagen allmählich und zunächst auf leisen Sohlen („Salami-Taktik“) die im 2.Weltkrieg von den Sowjets eroberten Gebiete sowjetisierte. Fast überall wurden während der Etablierung von „antifaschistischen Koalitionsregierungen“, in denen die Kommunisten natürlich das Sagen hatten, die ohnehin wegen Kollaboration oder Sympathisierung mit dem Deutschen Reich desavouierten gesellschaftlichen Eliten durch neue prokommunistische weitgehend ausgetauscht. Zum Beispiel seien aus der ungarischen Hauptstadt Budapest 50000 Vertreter des Groß- und Bildungsbürgertums verstreut in ländliche Gebiete zwangsumgesiedelt worden. Dabei habe natürlich sowjetischer Druck aus Moskau bzw. die in Osteuropa stationierte Rote Armee als Drohpotential eine große Rolle gespielt.
Nach politischem und teilweise auch physischem Ausschluss bürgerlicher Eliten aus dem öffentlichen Leben habe man dann in einer zweiten Phase bis zum Tode des Diktators 1953 die stalinistischen Herrschaftspraktiken, die man bereits aus der UdSSR kannte, weitgehend kopiert. Um jegliche innerkommunistische Opposition zu ersticken, seien allein in Ungarn ein Viertel ihrer Mitglieder aus der KP ausgeschlossen worden, 1,1 von 9 Millionen Ungarn seien wegen verräterischer und staatsfeindlicher Tätigkeiten angeklagt und davon 500000 in Schauprozessen verurteilt worden. In den anderen Ostblockländern war die Situation repressiver Maßnahmen vergleichbar, bei denen sogar ein Teil der kommunistischen Eliten physisch liquidiert wurden.
Bei der Anklage instrumentalisierten die Werkzeuge Stalins auch nationalistische und antisemitische Stimmungen in der Bevölkerung. Am wenigsten gelang die Stalinisierung noch in Polen, aufgrund der dort vorherrschenden, historisch begründeten antirussischen Stimmung und der starken, integrierenden Stellung der katholischen Kirche. Flankiert wurden die brutale Unterdrückung und Gleichschaltung allerdings überall durch Partizipationsangebote an die bisher vernachlässigten Unterschichten, die die Positionen der politisch und ökonomisch ausgeschalteten Vertreter des Bürgertums übernahmen. Diese relativ hohe soziale Mobilität trug natürlich auch zur Zufriedenheit eines Teils der Bevölkerung und damit zur Stabilisierung des stalinistischen Systems bei. Allerdings sahen sich die kommunistischen Führer nach dem Tode Stalins doch gezwungen die Repressionsmaßnahmen abzuschwächen, zum Teil wurden auch besonders verhasste Vertreter des Stalinismus aus ihren Ämtern gedrängt. In einigen Länder wie in Polen und Ungarn war dieser Prozess mit Unruhen und Aufständen (1956) verbunden, die sich nicht nur gegen den Stalinismus, sondern gegen das kommunistische System insgesamt wendeten. Diese wurden von Sowjettruppen niedergeschlagen.
Abschließend konstatierte die Referentin, dass im Gegensatz zu dem in Russland heute weitgehend abgelehnten Revolutionsführer Lenin sich Stalin bei einem Teil der russischen Bevölkerung noch erheblicher Beliebtheit erfreue. In ihm sehe man weniger einen brutalen kommunistischen Führer, sondern einen strengen, aber gerechten Herrscher, der eingereiht in die Reihe großer Zaren ein russisches Weltreich errichtet habe.
In der sich anschließenden lebhaften Diskussion konnten die Schüler auch Fragen zu den aktuellen Krisen auf der Krim bzw. der Ukraine stellen, die Frau Prof. Kraft ausführlich und differenziert beantwortete.
Hans Peter Wavra dankte der Referentin, die ursprünglich aus Bad Nauheim stammt und selbst Schülerin der Lioba war, im Namen der Schulleitung für die von ihr geleistete historische und politische Aufklärungsarbeit. Die Osteuropa-Historikerin bescheinigte den gut vorbereiteten Schülern und Schülerinnen einen für ihr Alter hohen historischen und politischen Sachverstand und sagte gern ihr Kommen für das nächste Jahr mit einer anderen Thematik zu.
Hans Peter Wavra