Zeitzeugen Leisler Kiep und Häber an der St.-Lioba-Schule- Lebendige Geschichte
Kurz bevor sie selbst mit ihren mündlichen Abiturprüfungen im Mittelpunkt des Interesses stehen werden, hatten die jungen Damen und Herren des Abiturjahrgangs der St.-Lioba-Schule noch einmal das Vergnügen, sich durch Zeitzeugen über einen wichtigen Abschnitt der deutschen Geschichte informieren zu lassen. Nachdem mit Rüdiger von Voss der Sohn eines Mitverschwörers vom 20. Juli 1944 über den deutschen Widerstand informiert hatte, konnten Schulleiter Dr. Tobias Angert und Geschichts- und Lateinlehrer Hans-Peter Wavra mit dem gebürtigen Hamburger Walther Leisler Kiep und dem aus Zwickau stammenden Ex-DDR-Politiker Herbert Häber zwei Männer begrüßen, die aktiv daran mitwirkten, dass aus dem Kalten Krieg kein heißer wurde.
Während Häber bereits das vierte Mal zu Gast an der Privatschule in der Trägerschaft des Mainzer Bistums war, war Walther Leisler Kiep anlässlich eines Besuches bei Häber in Berlin auf die Idee gekommen, man könne diese Veranstaltung gemeinsam bestreiten, und somit erstmals zu Gast.
In gewohnt kompetenter Manier übernahm Wavra eine Einführung in die Thematik Nachkriegsdeutschland, indem er daran erinnerte, dass vor gerade 66 Jahren der Zweite Weltkrieg für die Deutschen mit der Eroberung Berlins sein Ende fand, die gemeinsamen Interessen der Anti-Hitler-Koalition schnell aufgebraucht waren, das Potsdamer Abkommen keine Friedensgrundlage bieten konnte und der Kalte Krieg den heißen schon in Zeiten der Besatzungszonen ablöste. Wavra verwies dabei auf krisenhafte Zuspitzungen wie u.a. den Koreakrieg 1950, den Mauerbau 1961, die Kubakrise 1962 oder die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings 1968 bis hin zur Raketenkrise 1983/84. Die beiden Gäste stellte er als Politiker vor, die stets bemüht waren, in politischen Eiszeiten Schlimmeres zu verhüten. Die Geschichte von Aufstieg und Fall des. 1930 geborenen Herbert Häber liest sich so: Er begann seine Laufbahn als Journalist , besuchte die Parteihochschule der KPdSU in Moskau und wurde von 1971 bis 1985 zunehmend als Westexperte geschätzt und vor allem für Erich Honeckers Dialogpolitik mit westdeutschen Politikern immer unentbehrlicher. Der Mitgliedschaft im allmächtigen Politbüro folgte 1985 sein Sturz, da er den Machthabern in Moskau und Stasi-Chef Mielke, die eine Politik der Abgrenzung favorisierten, aufgrund seiner guten Westkontakte als spionageverdächtig erschien. In die Psychiatrie abgeschoben, galt Häber bis zum DDR-Ende als persona non grata. Letztlich musste er sich nach der Vereinigung Deutschlands noch zehn Jahre in einem "Mauerschützenprozess" verantworten, wurde schuldig gesprochen, erhielt aber aufgrund seiner Bemühungen, die Folgen der Teilung zu mildern, keine Strafe. In dieser schweren Zeit standen ihm einige Politiker zur Seite, mit denen er zu DDR-Zeiten Kontakte unterhielt, darunter auch Walther Leisler Kiep. Nach dessen Ansicht hätte Häber eher das Bundesverdiernstkreuz verdient.
Der 1926 geborene. Walther Leisler Kiep, der einen Teil seiner Kinderjahre in der Türkei verbrachte, gilt als ein Mann von Welt, der mit seinem Eintritt in die CDU 1961 eine beachtliche Karriere machte, etwa als jahrelanger Bundestagsabgeordneter des Hochtaunuskreises, Wirtschafts- und Finanzminister in Niedersachsen von 1976 bis 1980, Bundesschatzmeister der CDU von 1971 bis 1992 und nicht zuletzt als derjenige, der das Amt des Außenministers übernommen hätte, wenn Franz Josef Strauß die Kanzlerschaft erreicht hätte . Mit seiner Anekdote, wie ihn ein Treffen mit dem damaligen FDP-Vorsitzenden Mende davon abgehalten habe, dieser Partei beizutreten, brachte er die Zuhörer zum Schmunzeln. Er entwickelte als Vertreter einer kleinen Minderheit seiner Partei gewisse Sympathien für eine offensivere Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, was sich darin äußerte, dass er als einer von vier Oppositionsangehörigen der Ratifizierung des Grundlagenvertrages zustimmte.
Das folgende Gespräch machte deutlich, dass mit dem ersten Treffen der beiden Politiker aus zwei völlig verschiedenen Welten, wie sie Bundesrepublik und DDR damals darstellten, eine freundschaftliche Verbindung zwischen Häber und Leisler Kiep entstanden ist. Dieses erste Treffen fand am 15. Januar 1975 in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin statt, deren Leiter damals Günter Gaus war. Der mag sich damals, wie Leisler Kiep ihn anschaulich zitierte, etwa so gefühlt haben " wie der deutsche Vertreter am Vatikan zur Zeit Martin Luthers". Beiden Politikern war vor ihrer ersten Begegnung die Auffassung gemeinsam, dass es zu ihren Lebzeiten "keine gravierenden Veränderungen in der Welt geben werde". Beide waren sich aber auch darin einig, dass trotz der auch nach und während der Entspannungspolitik bestehenden existenziellen Spannungen keine Explosion entstehen , von deutschem Boden also nie wieder Krieg ausgehen dürfe. Auf eine Schülerfrage nach den Gründen für ihr gutes Verständnis antworteten beide ähnlich, man habe von Anfang an gespürt, dass der jeweils andere kein "Betonkopf" sei, sondern sich in die Lage des Politikers der Gegenseite hineinfühlen könne. Häber war von diesem ersten Treffen durch Politbüromitglied Axen ausdrücklich abgeraten worden, aber "Honecker stand dahinter". Ihm aber sei angesichts der Ausplünderung der DDR durch die Reparationen für die Sowjetunion schon sehr früh klar geworden, dass ein Überleben ohne Hilfe von außen in der Zweistaatlichkeit nicht möglich sei. Auch Honecker habe gerade in der Raketenkrise auf "eine Koalition der Vernunft" gehofft, die auszuloten seine – Häbers - Aufgabe gewesen sei. Honeckers Meinung sei gewesen: "Wir zahlen die Raketen, aber das Teufelszeug muss wieder weg." Kohl habe von einer "Verantwortungsgemeinschaft beider Staaten" gesprochen und Honecker eingeladen . Deutlich wurde auch, dass Häbers und Leisler Kieps Funktion eher die war, ihren entsprechenden Regierungschef zu beraten. Entscheidungen aber wurden auf höherer Ebene getroffen.
So kamen die Besucher nicht nur in den Genuss einer Darstellung der schwierigen Deutschlandpolitik aus der Sicht von betroffenen Politikern, sondern erfuhren auch so manches, was tatsächlich "nicht in den Geschichtsbüchern steht", wie Wavra, der auch die Moderation übernommen hatte, angekündigt hatte. Etwa von einer Rede von Franz Josef Strauß vor Repräsentanten New Yorker Juden, die um ein Haar gut gegangen wäre, letztlich aber zum Eklat führte, oder dem legendären Milliardenkredit an die DDR, mit dem Strauß die verhandelnden Politiker "links überholt habe" .Zu erfahren war auch, dass laut Häber Honecker "die ständigen Einmischungen Moskaus unerträglich" gefunden habe, und Kohl Leisler Kiep auf dessen Initiativen hin des Öfteren vertröstet habe: "Ei, Walter, des mache mer, wenn mer dran sind."
Geduldig beantwortet wurden auch Fragen interessierter Schüler, wobei die Zeitzeugen auch die Gelegenheit nutzten, aktuelle Themen anzuschneiden. Aber diese Flexibilität gehört bei professionellen Politikern dazu und tat der Freude an dieser außergewöhnlichen Veranstaltung keinen Abbruch.