Reflexionen des Jahrgangs 10 über das Leben des jüdischen Schriftstellers Walter Kaufmann
Eine große Familie versammelt sich in der offenen Küche und im Wohnzimmer. Es wird gefeiert, gemeinsam auf Hebräisch gesungen, die Ältesten der Familie lassen sich zum Tanzen hinreißen. Lissy, in den hohen 80ern, hebt die Arme und legt sie um ihren noch älteren Walter, der sie im Rhythmus zwischen den Kindern zur Musik hindurchführt. Woher nimmt Walter Kaufmann bloß all diese Kraft und Le-bensfreude? Seine Lebenseinstellung ist erstaunlich angesichts der vielen Bedrohungen seiner Existenz. Immer wieder bewegt sich sein Weg zwischen Zwang, Notwendigkeit und Gnade, weiterzumachen – an fremden Orten, mit fremden Menschen, unter menschenfremden Bedingungen.
„Wir sind keine Solitäre. Wir sind Menschen, eingebettet in Zeit und Raum, geformt von Geschichte und gleichzeitig Gestalter von Gegenwart und Zukunft.“ Diese Einsicht eröffnete am 24. Mai den Filmvorhang zu der Welt Walter Kaufmanns, in der Geschichte, Religion, Politik und Deutsch nicht nur gelehrt, sondern in einem besonderen Leben ganz verdichtet erzählt wird.
Im Kino Butzbach versammelten sich die Schüler des zehnten Jahrgangs der Sankt Lioba Schule, um den ausgezeichneten Film „Walter Kaufmann! Welch ein Leben“ zu sehen und mit dessen Regisseurin Karin Kaper und Manfred de Vries als Vorsitzendem der Jüdischen Gemeinde Bad Nauheims darüber ins Gespräch zu kommen. Dieser Besuch war nicht nur eine Bildungsreise, sondern auch ein existenzieller Dialog mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart – begleitet von den katholischen Religionslehrern Thomas Gölzhäuser und Ralf Rupprecht sowie Simon Sinnig und Schulpfarrerin Christin Neugeborn als Vertretern der evangelischen Fachschaft.
Der Film verknüpft die Inhalte des Schulunterrichts über das 20. Jahrhundert und ver-schiedene Herrschaftsformen mit der Suche nach Sinn und der Geschichte des Judentums als Verfolgungsgeschichte. Walter Kaufmanns Leben dient als Zeugnis dafür, wie ein Einzelner mit der Fähigkeit zum Schreiben, zum Einordnen und wachsamen Blick für die Meta-Erzählungen der Gegenwart durch die Wirren der Zeit, politische Umwälzungen und Herausforderungen navigieren und dabei einen Beitrag für ein menschenwürdiges Leben leisten kann. Seine Geschichte spiegelt die Prinzipien wider, die in unserem Grundgesetz verankert sind und uns leiten – Prinzipien, deren 75-jähriges Jubiläum wir derzeit feiern.
Die Schülerinnen und Schüler waren berührt von Kaufmanns Einsatz und neugierig auf die Geschichten, die Karin Kaper als Regisseurin des Films zu erzählen hatte. Ihre emo-tionale Schilderung seiner persönlichen Reise, von ersten Begegnungen mit ihm als Journalisten in der ersten Reihe bei Filmvorstellungen bis hin zu seinem Tod, zeigte die menschliche wie auch verletzliche Seite eines Mannes, der sich unermüdlich für Frieden einsetzte.
Parallelen zwischen Kaufmanns und seinem eigenen Lebenslauf zog de Vries, als er auf das jüdische Schicksal eines ständigen und unsagbar herausfordernden Suchens nach Heimat und Identität in der Fremde einging. Über seine persönlichen Schilderungen wurde die enorme Bedeutung einer sicheren Heimat in Israel deutlich, die immer wieder infrage gestellt wird.
Dieser Film und die sich anschließenden Reflexionen, die Kaufmann inspirierte, boten den Schülerinnen und Schülern eine beeindruckende Reise und wertvolle Erfahrungen außerhalb des Klassenzimmers. Sie wurden ermutigt, über den Sinn des Lebens sowie Zugehörigkeit und Heimat nachzudenken und über die Rolle, die jeder Einzelne in der Gestaltung einer gerechteren und friedlicheren Welt spielt.
In einer Zeit, in der die Welt immer komplexer wird, bietet die Geschichte von Walter Kaufmann eine Lektion in Menschlichkeit und zeigt uns, dass trotz aller Herausforderungen Hoffnung und Widerstandsfähigkeit bestehen bleiben. Es ist eine Geschichte, die uns lehrt, dass wir, obwohl wir von der Geschichte geformt sind, die Kraft haben, unsere eigene Zukunft zu gestalten.