Hans Peter Wavra (vordere Reihe, 1. von links) mit dem Leistungskurs Geschichte bei Alodia Witaszek-Napierala (vordere Reihe, 2. von rechts).
Im Gespräch mit Zeitzeugen der NS-Besatzung von Polen
Zum ersten Mal nach dreijähriger Corona-Pause hatten Oberstufenschülerinnen und -schüler aus den Geschichtskursen der Sankt Lioba Schule wieder einmal die Gelegenheit, mit überlebenden polnischen Zeitzeugen aus der NS-Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Die Schülerinnen und Schüler wurden von den Lehrern Hans Peter Wavra, der auch die Begegnung mitorganisiert hatte, Joseph Marmion und Nicole Klein begleitet.
Die seit vielen Jahren vom Bistum Mainz organisierte Begegnung fand diesmal mit der Biochemikerin Alodia Witaszek-Napierala sowie dem Autoelektriker und Musiker Mieczyslaw Grochowski in einem Tagungszentrum in Steinbach/Taunus statt. Beide Zeitzeugen berichteten eindringlich über die traumatischen Erlebnisse während ihrer Kindheit.
Die 84jährige, in Posen geborene und aus einer Akademikerfamilie stammende Biochemikerin Alodia Witaszek-Napierala wurde im Sommer 1943 nach Verhaftung und Hinrichtung ihres einer Widerstandsgruppe vorstehenden Vaters mit ihrer kleinen Schwester ihrer Familie weggenommen und in das berüchtigte Kinderkonzentrationslager bei Lodz gesteckt. Wegen ihrer blonden Haare und blauen Augen befand man sie von Seiten der NS-Behörden einer „Germanisierung“ für geeignet.
Nach Aufenthalten in einem Gaukinderheim im polnischen Kalisch und einem Lebensbornheim im pommerschen Bad Polzig wurde sie zur Adoption freigegeben. Die Nationalsozialisten trachteten danach, ihre polnische Vergangenheit auszulöschen; aus ihrem polnischen Namen wurde jetzt der deutsche Alicia Wittke. So gelangte sie zu einer kinderlosen deutschen Familie nach Stendal, verlebte dort vier behütete Jahre und ging dort zur Schule.
Mit Hilfe polnischer und internationaler Organisationen gelang es ihrer Mutter, die die Besatzungszeit in deutschen Konzentrationslagern überlebt hatte, ihre verschleppten Kinder ausfindig zu machen. Ihre deutsche Adoptivfamilie, die erst jetzt von der polnischen Abstammung ihres Kindes erfuhr, gab schweren Herzens die kleine Alicia/Alodia an deren leibliche Familie zurück.
Obgleich die Freude in Alodias polnischer Familie groß war, musste Alodia, die ihre frühen Kindheitserinnerungen an ihre eigene Familie und die schweren Jahre der NS-Besatzungszeit verdrängt hatte, wieder die polnische Sprache neu erlernen, war sogar in den ersten Jahren durch ihre polnischen Mitschülerinnen und -schüler als „Deutsche“ Diskrimierungen ausgesetzt.
Alodia Witaszek-Napierala machte beruflich ihren Weg, heiratete und bekam Kinder. Bis zu deren Tode pflegte sie eine enge Beziehung zu ihren deutschen Adoptiveltern und bezeichnet es trotz aller widrigen Erlebnisse in ihrer Kindheit doch als Glück, zwei Familien gehabt zu haben, worin sie auch eine persönliche Brücke der Verständigung zwischen Polen und Deutschen sieht.
Der zweite Zeitzeuge, Mieczyslaw Grochowski, stammt aus einer polnischsprachigen Familie aus der Nähe von Danzig, wo er heute noch lebt, und wurde am 25. März 1939 geboren. Da sein Vater sich weigerte, die sogenannte „Volksliste“ zu unterschreiben, die unter anderem die Germanisierung dieser Region und seine Verpflichtung durch die Wehrmacht bedeutet hätte, wurde die ganze Familie 1943 verschleppt und im Internie-rungslager Potulitz, unweit von Bromberg (heute: Bydgoscz) teilweise bis zum Kriegs-ende inhaftiert.
Potulitz war ein verhältnismäßig kleines Außenlager des KZ Stutthof (bei Danzig) und diente als Arbeits- und Durchgangslager. Hier wurden die älteren Kinder zum Arbeitseinsatz abkommandiert, während die Eltern in kriegsrelevante Industrien, etwa in Schneidereien für Wehrmachtsuniformen oder in Rüstungsfabriken eingesetzt wurden. Die kleineren Kinder wie Mieczyslaw verbrachten oft bei allen Witterungen den Tag unter Aufsicht im Freien. Die Unterbringung der Familien erfolgte in primitiven Baracken mit Mehrstockbetten und dürftiger Bettwäsche, die Verpflegung war kaum ausreichend für die Gefangenen, um tägliche körperliche Arbeit zu leisten. So erkrankten viele Insassen, auch die Kinder. Mieczyslaw berichtete von den furchtbaren Folgen von Läusen, Flöhen und vor allem Wanzen. Viele Insassen starben aufgrund der brutalen Bedingungen; hierzu gehörte auch sein Vater. Durch eine Anordnung von SS-Führer Heinrich Himmler, die die Lagerpopulationen reduzieren sollte, konnte Mieczyslaw Anfang 1945 in die Obhut seiner Tante entlassen werden; seine sieben Geschwister und seine Mutter sah er erst nach Kriegsende wieder.
Die Gruppe mit Mieczyslaw Grochowski und Joseph Marmion (Bildmitte).
Mindestens so viel Raum wie die Kriegszeit nahm im Vortrag des 83-jährigen Zeitzeugen auch die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Während sich unter sowjetischer Kontrolle die Volksrepublik Polen bildete, absolvierte Mieczyslaw die Grundschule und anschließend eine Lehre als Autoelektriker. Da er in dieser Zeit auch anfing, Trompete zu lernen, eröffnete sich für ihn die Möglichkeit, während seiner Militärdienstzeit in das Marineorchester in Gdingen (Gdynia) einzutreten, wo er 30 Jahre lang mitwirkte. Anschließend war er in einem Zirkus tätig. Durch diese Beschäftigungen hatte er mehr Reisemöglichkeiten – nicht nur im Ostblock, sondern auch im Westen – als die meisten seiner Landsleute während des Kalten Krieges.
Im Anschluss an die Vorträge hatten die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, an die Zeitzeugen Fragen zu stellen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wovon rege Gebrauch gemacht wurde. In der Nachbereitung zur Veranstaltung machten die Schülerinnen und Schüler deutlich, wie wichtig solche über das im Geschichtsunterricht im Mittelpunkt stehende Quellenstudium hinausgehende persönliche Begegnungen sind, zumal die Zeitzeugengeneration im Aussterben begriffen ist. Die Sankt Lioba Schule hofft, dass eine Folgeveranstaltung auch im nächsten Jahr noch einmal angeboten werden kann.
Text: Joseph Marmion und Hans Peter Wavra