Fotografiker und Autor Siegfried Wittenburg spricht über die Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit in der ehemaligen DDR
Den weiten Weg von der Mecklenburgischen Ostseeküste bis in die Wetterau nicht scheuend, hielt Siegfried Wittenburg in der vergangenen Woche vor Schülern der Sankt Lioba Schule, der Ernst-Ludwig-Schule (beide Bad Nauheim) und des Burggymnasiums (Friedberg) insgesamt vier Vorträge über das Alltagsleben in der DDR, die er mit eigenen Fotos eindrucksvoll illustrierte. Ermöglicht wurde diese Vortragsreihe durch die Hessische Landeszentrale für Politische Bildung im Rahmen des Zeitzeugenprojekts des Landes Hessen, die Finanzierung übernahm.
Wittenburgs Fotos und Erzählungen spannen einen Bogen von den 50er Jahren bis zur friedlichen Revolution 1989 und geben markante Einblicke in das Alltagsleben einer Diktatur, in der versucht wird, den Einzelnen zu vereinnahmen, ihn umzuerziehen, unter Druck zu setzen, sein Rückgrat zu brechen.
Wittenburg, der aus einem systemkritischen protestantischen Elternhaus stammt, begann seinen Vortrag mit der Erläuterung der „offiziellen Utopie“, die im ersten „sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ verwirklicht werden sollte. Die Kinder sollten zu neuen Menschen, zur „allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ erzogen werden. Dass mit dieser Forderung zugleich der
Anpassungsdruck für den Einzelnen stieg und die Schule als Überwachungsinstrument diente, zeigte sein Klassenfoto, auf dem nicht alle Kinder in FDJ-Uniform abgelichtet waren. Wittenburg und drei weitere Kameraden waren somit für den Lehrer als nicht systemkonform erkennbar.
Unbegreiflich erschien den heutigen Schülern und Schülerinnen, dass auf den persönlichen Lebensweg der Menschen massiv Einfluss genommen wurde. Ein A für Arbeiter und ein I für Intelligenz signalisierte dem Lehrer, wer zur Arbeiterklasse gehörte und zu unterstützen war, während den anderen sogar das Abitur und ein Studium verweigert wurde. Daran gewöhnt, den eigenen Lebensentwurf nach persönlichen Neigungen zu gestalten, wurde den Jugendlichen sehr schnell klar, wie wertvoll die Garantie der persönlichen Freiheit ist. Dass man sich einem totalitären Regime aber auch nicht widerstandlos ausliefern musste, verdeutlichte Wittenburgs Beispiel, als er die Bemühungen seines Meisters, ihn zum Eintritt in die SED zu bewegen, ablehnte. Der Preis dafür waren eine ausbleibende Lohnerhöhung und fehlende Aufstiegschancen. Dafür war er sich treu geblieben.
Mit seinen Fotos, die er als Mitglied des Betriebsfotozirkels auch ausstellte, geriet er häufiger in Konflikt mit der Partei und auch ins Visier der Stasi, die gleich mehrere informelle Mitarbeiter auf ihn ansetzte. Denn seine Fotos zeigen die Realität des „Arbeiter- und Bauernstaates“: heruntergekommene Betriebe, die Trostlosigkeit der Plattenbauten, die aufgrund des matschigen Untergrundes nur mit Gummistiefeln gefahrlos zu erreichen waren. Die emotionale Bildsprache lässt die Hoffnungen der Menschen erahnen, die in Warnemünde am Hafen stehen, den Blick nach Norden und Westen auf Dänemark gerichtet, das für sie, obwohl in Sichtweite, unerreichbar war. Trotz der offenkundig systemwidrigen Motive wurden seine Fotos ausgestellt, erhielten sogar Preise und besaßen eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die Mitglieder der damaligen Kunstszene. Mit seiner lockeren und lebendigen Art zu erzählen, den stark persönlich gefärbten Beispielen, seinem kritischen Blick auf Vergangenheit und Gegen-wart fand Wittenburg rasch Zugang zu den Oberstufenschülern, für die sein Appell, für Demokratie und Freiheit bewusst einzutreten, durch seinen Vortrag eine andere Qualität erhalten hat.