Gießener Geschichtsstudentinnen besuchten zwei neunte Klassen der Sankt Lioba Schule
Auf den Tag genau 71 Jahre nach der Befreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz fand in den Klassen 9a und 9b der Sankt Lioba Schule eine eher ungewöhnliche Form würdevollen Gedenkens statt. Die beiden Geschichtslehrer Hans Peter Wavra und Winfried Auel überließen an diesem 27. Januar, der seit 1996 bundesweit als Gedenktag für die Opfer der Naziherrschaft gilt, fünf Geschichtsstudentinnen der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) je eine Doppelstunde. Und daran taten sie gut, wie die Äußerungen von Schülerinnen und Schülern der beiden Klassen belegten.
„Es wird immer erzählt, KZs wären schlimm, aber jetzt mal zu erfahren, wie schlimm es schon in den Arbeitslagern war, ist eine neue Erfahrung für mich“, äußerte Tobias Stieglitz. Besonders betroffen war Catharina Zobel über die Lügen, die den Deportierten und meist zur Vernichtung bestimmten Opfern aufgetischt wurden: „Wie mit der Hoffnung der Menschen gespielt und wie sie missbraucht wurde.“ Die Ungeheuerlichkeiten der auf dem Irrsinn der NS- Rassenpolitik basierenden Menschenverachtung, die zwischen arischen und nicht-arischen Menschen unterschied und letztere bis auf die Stufe der Tiere degradierte, was insbesondere für die Juden galt, erschütterten die Jugendlichen sehr stark .Die Studentinnen, die alle an der Gießener Hochschule ein Seminar bei Monika Rox-Helmer über „Frühe Holocaust- und Lagerliteratur“ besuchen, hatten dort gelernt, wie sie diese schwierige Thematik vermitteln konnten.
Im Wesentlichen arbeiteten die Studentinnen mit zwei Hauptelementen, die in der jeweiligen Klasse in umgekehrter Reihenfolge genutzt wurden. In einer Klasse stand die Erstellung einer Mindmap am Anfang der Doppelstunde und diente der Erkundung des Vorwissens So war den Jugendlichen bekannt, dass nicht nur Juden Opfer der Nazis wurden, sondern auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte und Gegner des Nationalsozialismus unterschiedlicher politischer oder religiöser Orientierung. In der zweiten Gruppe wurden Konsequenzen aus der Erfahrung mit den Nazis, der Sinn dieses Gedenktages und Auswirkungen auf die gegenwärtige Politik angesprochen. Eine besondere Rolle kam den in beiden Klassen vorgetragenen Texten zu, wobei die Äußerung einer Schülerin wohl das Empfinden aller traf: „Das ging mir unter die Haut.“ Die Lesung von Texten, oft Augenzeugenberichten, also erlebte Geschichte, aber auch von Autoren wie Ralph Giordano oder Berendt Rosenfeld verfasst, ließ Ängste und Pein sowie eine unglaubliche Menschenverachtung allein durch Zuhören Gestalt gewinnen. Selbstverständlich, dass nach der Doppelstunde Zeit für die Reflexion blieb, zunächst der jungen Damen mit ihrer jeweiligen Lerngruppe, dann auch mit den Fachlehrern.
Der Kontakt zum Historischen Seminar der JLU Gießen kam durch Winfried Auel und die ehemalige Liobaschülerin Madeleine Rohe zustande. Mit ihren Kommilitoninnen Laura Schaller, Savanah Grotegut, Karolin Kollin und Katarin Eric können sie ihrer Seminarleiterin von der sehr positiven Erfahrung ihres Einsatzes an der Privatschule in der Trägerschaft des Bistums Mainz berichten. Sie geben Hoffnung, dass auch mit dem Ableben der letzten KZ-Überlebenden die Erinnerung, die den Opfern ihre Würde wiedergibt, nicht erlöschen wird.
Text und Bilder: Hans-Wolfgang Steffek