Der Mauerfall aus der Sicht des Historikers Demandt
Bad Nauheim. „Die Öffnung der Grenze wurde niemals befohlen, niemals erlaubt, der Prozess hatte sich verselbständigt.“ Mit dieser und einigen anderen so nicht bekannten Äußerungen überraschte der in Altenstadt lebende Professor Alexander Demandt eine große Anzahl an Besuchern im Musiksaal der Sankt Lioba Schule. Demandt ist an der Privatschule in der Trägerschaft des Bistums Mainz ein gern gesehener Gast, der es vorzüglich versteht, nicht nur junge Menschen für Geschichte zu begeistern. Diesmal beschäftigte er sich ganz zeitnah – am 11. November 2019 – mit dem Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren.
Begrüßt wurde er vom Latein- und Geschichtslehrer Hans Peter Wavra, der gewohnt kenntnisreich in die Thematik einführte, wobei er die Bedeutung des Datums 9. November für die deutsche Geschichte hervorhob und die völlige Blindheit Erich Honeckers gegenüber der Realität und die zunehmende Ignoranz gegenüber dem Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz durch Politiker wie Brandt oder Lafontaine bis hin zur Formulierung vom „Wiedervereinigungsgequatsche“ unterstrich.
Demandt bezeichnete den Ost-West-Gegensatz als ein Dauerthema der Weltpolitik vom trojanischen Krieg bis zur Gegenwart. Er erinnerte an die Politik Gorbatschows mit Glasnost und Perestroika, die bis auf die DDR, die sich als „Gralshüter des Kommunismus“ gesehen habe, überall zu einem politischen Tapetenwechsel führte. Während Honecker noch 40 Jahre DDR feierte, versammelten sich massenweise Demonstranten, die schließlich Reformen und Reisefreiheit forderten: „Visafrei bis Hawaii!“ Der Historiker stellte klar, dass eine Reihe von westlichen Politikern mit Ausnahme des US-Präsidenten Bush in der immer heftiger geforderten Wiedervereinigung zunehmend eine Bedrohung sah. Auch sei keineswegs klar gewesen, dass das „Zusammenrotten von Randalierern unter staatsfeindlichen Parolen“, wie es die Stasi wertete, bis hin zur Losung der Massen („Wir sind das Volk!“) nicht mit der „chinesischen Lösung“ des Niederwalzens der Proteste durch Panzer beantwortet werden würde. Bis zum 16. Oktober 1989 hatte sich die Zahl der Demonstranten fast verdoppelt, am 17. Oktober wurde Honecker gestürzt.
Auch unter seinem Nachfolger Egon Krenz, der die Zustimmung des Zentralkomitees zum Reisegesetz erhielt, nahm, wie Demandt unterstrich, die Verunsicherung der Staatsorgane noch zu, bis dann die überforderten Grenzorgane nach der legendären Pressekonferenz von Politbüro-Mitglied Günther Schabowski keine andere Möglichkeit mehr sahen, als Westberlin mit ausreisewilligen DDR-Bürgern zu „fluten“.
Der Weg zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit war gebahnt. Ganz anders, als sich das Walter Ulbricht 1965 vorgestellt hatte bei der Stiftung des Blücher-Ordens für das Überschreiten des Rheins bis zur deutschen Wiedervereinigung unter sozialistischer Führung. Demandt machte in seinem Vortrag auch sehr deutlich, dass alle „menschlichen Erleichterungen“, die die DDR gewährte, von Bonn mit Milliardenzahlungen erkauft wurden. In der Geschichte ohne Beispiel sei die DDR- Regierung unter Lothar de Maiziere gewesen, deren einzige Aufgabe in ihrer Selbstauslösung bestanden habe. Das „2 plus 4-Abkommen“ sei letztlich dann an die Stelle des im Potsdamer Abkommen erwähnten Friedensvertrages getreten.
Für den nicht zuletzt von der Landeszentrale für Politische Bildung gesponserten Vortrag dankten die Besucher, deren Fragen auch gern beantwortet wurden, mit reichem Beifall und der Schulleiter Bernhard Marohn mit einem edlen Tropfen.
Text und Foto: Dr. Hans-Wolfgang Steffek