Vera Lengsfeld, prominente Aktivistin bei der friedlichen Revolution in der DDR, konnte sich am Montagabend über guten Besuch in der Aula der Sankt Lioba Schule freuen. So begrüßte Schulleiter Bernhard Marohn nicht nur die jetzt als freie Autorin lebende DDR-Bürgerrechtlerin, sondern auch alle, die gekommen waren, um aus erster Hand zu erfahren, wie die DDR aus dem Zustand der Diktatur befreit werden konnte. Marohn betonte die Notwendigkeit, nicht nur über den Staat der Nazis zu informieren, sondern auch über die zweite Diktatur auf deutschem Boden, die der DDR. Er freute sich darüber, dass auch der Präsident des Hessischen Landtags, Norbert Kartmann, der Bürgermeister der Stadt Bad Nauheim, Armin Häuser, und die ehemalige Schulleiterin Gisela Opp gekommen waren. Besonders würdigte er die Verdienste des Geschichtslehrers Hans Peter Wavra, dessen gute Kontakte immer wieder für Besuche prominenter Zeitzeugen genutzt werden könnten, wie auch bei der Einladung Vera Lengsfelds. Kartmann unterstrich in seinem Grußwort die Notwendigkeit, über das DDR-Unrecht zu informieren, und wertete den Abend als weiteren Beitrag zu einer ungewöhnlich guten Qualität des Politikunterrichts an der vom Bistum Mainz getragenen Schule.
Hans Peter Wavra stufte in seiner Hinführung Lengfelds Vortrag „Von der friedlichen Revolution 1989 zur deutschen Einheit 1990“ als Beitrag zum 25. Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands ein, schilderte kurz die Situation der DDR und ging knapp auf die Biographie der Besucherin ein. Er schilderte, wie Lengsfeld, aufgewachsen in einer linientreuen Familie, sich bereits Ende der 70er-Jahre in verschiedenen Oppositionsgruppen gegen die kommunistische Diktatur engagierte. Mit Bärbel Bohley und Freya Klier gehöre sie zu den prominentesten Kämpferinnen für eine friedliche Revolution in der DDR. Sie wurde deswegen mit Berufsverbot belegt, zeitweise verhaftet und schließlich gegen ihren Willen ausgebürgert. Sie kehrte kurz vor dem Mauerfall zurück, wurde bei der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl am 18. 3. 1990 in das Parlament der DDR gewählt, war Bundestagsabgeordnete von 1990-2005 und lebt heute als freie Autorin in Berlin.
Lengsfeld bezeichnete ihren Vortrag als Beitrag gegen eine vielfältige Legendenbildung, die heute die Wahrheit überwuchere, und gegen das historische Unverständnis, das sich rund um die „wunderbaren Ereignisse“ der Jahre 1989/90 breit gemacht habe. Sie kritisierte den vom SED-Politiker Egon Krenz aufgebrachten Begriff „Wende“, der heute oft verwendet werde. Es habe 20 Jahre gedauert, bis der Begriff der „friedlichen Revolution“ Einzug in den deutschen Sprachgebrauch gehalten habe. Auch in der medialen Darstellung habe sich eine unzulässige Verschiebung ergeben. So sei es Unsinn, den Grenzoffizier an der Bornholmer Straße wegen der Öffnung der Grenze zu würdigen, schließlich habe er 30 Jahre in Diensten der DDR-Politiker gestanden.
Völliger Unsinn sei es, Gregor Gysi gleich als dreifachen Neugründer einer Partei zu würdigen. Es habe sich nur um Umbenennungen der alten SED gehandelt, die auf diese Art noch heute in Deutschland vertreten sei.
Weitere ins Reich der Legende gehörende Äußerungen seien die, die davon redeten, dass die Mehrheit der DDR-Bürger gar keine Wiedervereinigung gewollt hätte und die DDR vom Westen okkupiert oder gar annektiert worden sei. Zeuge dafür sei u.a. der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, der erklärte, dass die DDR schon 1983 pleite gewesen sei. Lengsfeld wörtlich: „Die DDR war in jeder Hinsicht pleite, nicht nur moralisch, sondern auch politisch und finanziell.“ Damit gehöre auch eine weitere Behauptung ins Reich der Fabel, wonach die von SED-Mitglied Hans Modrow gegründete Treuhandanstalt die DDR ruiniert habe. Völlig falsch liege auch die Einschätzung, die Einheit könne nicht von den DDR-Bürgern gewollt gewesen sein .Dazu habe etwa ein Bericht der sonst durchaus seriösen ZEIT beigetragen, der noch im Sommer 1989 von einer „stillen Verehrung“ der Bevölkerung für den Staatsratsvorsitzenden gesprochen habe. Lengsfeld ordnete des Weiteren die Entwicklung in der DDR in den Gesamtkontext demokratischer Bewegungen in den übrigen „Ostblockstaaten“ ein und würdigte besonders die schwierige, aber immer weitere Kreise umfassende Arbeit der Bürgerrechtsbewegungen, wobei sie von Anfang an dabei gewesen sei. Honeckers Wunsch, auch im Westen als ebenbürtiger Staatschef akzeptiert zu werden, habe zur Politik der „Kirche im Sozialismus“ geführt. Dadurch seien die Räume der evangelischen Kirche zu Freiräumen geworden, da man der Kirche das Hausrecht gegeben habe. Schließlich sei die Bürgerrechtsbewegung zu einer Massenveranstaltung geworden, die den von der SED in Erwägung gezogenen „Enthauptungsschlag“ ebenso wie Gewaltanwendung nicht mehr machbar erscheinen ließ. Der Parole „Wir sind das Volk“ habe die DDR-Führung trotz Honeckers Durchhalteparolen nichts mehr entgegenzusetzen gehabt.
Bis auf eine zu private Frage beantwortete die mit reichlichem Applaus belohnte Autorin Lengsfeld alle Fragen aus dem Publikum und signierte ihr Buch „1989 – Tagebuch der Friedlichen Revolution“. Am nächsten Morgen sprach sie zum Abiturjahrgang. Bericht folgt.
Dr.Steffek