Illusionsspiel mit lebensgroßen Figuren
„Ein Leben für eine Rose“, brüllt das Biest den Vater von Belle an, der sich des Diebstahls einer Rose schuldig gemacht hat. Was das Tier aber eigentlich erhofft, ist nicht den Vater zu töten, sondern seine Tochter Belle ins Schloss zu locken. Durch sie erhielte er eine klitzekleine Chance, von seinem Fluch erlöst zu werden. Aber welch ein Fluch ist das? Die Antwort auf diese Frage konnte man während vier Aufführungen der Theater-AG der Bad Nauheimer Sankt Lioba Schule im April auf der hauseigenen Bühne erleben. Auf der Grundlage alter französischer Märchen wurde dort diese beliebte Geschichte neu erzählt.
Doch das wirklich Besondere dieser Aufführungen war, dass die Schöne, ihr Vater und das Biest nicht als Schauspielerinnen und Schauspieler die Bühne betraten, sondern als lebensgroße Spielfiguren, die von den jugendlichen Akteuren bewegt wurden. Ganz in schwarz gekleidet, mit Handschuhen und mit dunklen Masken versehen, führten sie zu zweit bzw. zu dritt die leblosen Hauptdarsteller des Stückes und erweckten sie mit faszinierender Dynamik und Abstimmung zum Dasein, so dass alle Zuschauerinnen und Zu¬schauer schwärmten, schon nach wenigen Minuten der Illusion erlegen zu sein, echte „Wesen“ vor sich zu sehen, die gar keiner Führung bedurften. Man sah die Puppenspieler klar vor sich und sah sie zugleich auch wieder nicht. Aber das war noch nicht alles.
Am Anfang des Stückes versammelte sich die Schar der Spielerinnen und Spieler auf der Bühne und eignete sich ein Büchlein an, in dem das Stück niedergeschrieben worden war. Danach begann ein immer turbulenter werdendes Spiel, in dem die Jugendlichen ständig in verschiedene Rollen wechselten: Vom Figurenführer zum Vorleser, vom Vorleser zum Schauspieler, vom Schauspieler zum pantomimischen Begleiter von Belle. Das Publikum war fasziniert von den vielen verschiedenen Konstellationen, die sich dadurch ergaben: Da spielten die Figuren miteinander, aber auch mit den Schauspielern, die Schauspieler wiederum spielten untereinander, aber auch mit den Figurenführern, die gelegentlich aus ihrer dienenden Rolle traten, die Maske absetzten und sich für einen kurzen Moment in die Dialoge einmischten.
„Facettenreich, abwechslungsvoll, spannend“, so urteilten die Besucher der Veranstaltungen. Sehr viel Lob erhielten aber auch das Bühnenbild, die Ton- (Matthias Nickel) und die Lichttechnik (Maximilian Sammeth), die es schafften, viele verschiedene Räume ohne allzu großen Umbauaufwand auf die Lioba Bühne zu zaubern.
Dabei war nicht von Anfang an klar, ob das Projekt überhaupt erfolgreich sein könnte. Die selbstgebauten Figuren überstanden häufig die Proben nicht und mussten repariert und weiterentwickelt werden. Die Spieltechnik an den Figuren musste aufwendig geübt und einstudiert werden. Viele Kleinigkeiten, die im „normalen“ Theater unbedeutend sind, stellten die Gruppe vor große Hürden. Also zog man sich für ein paar Tage in die Jugendherberge nach Bad Homburg zurück und reüssierte dort aber zunehmend. Dabei waren die Motivation und die Disziplin der Gruppe ein entscheidender Faktor, die Leitung und Unterstützung der Proben durch Beatrice Schmidt, selbst Schülerin an der Sankt Lioba Schule und sehr ballett- bzw. theatererfahren, ein anderer. Sie schaffte es zusammen mit Georg Jung, Lehrer an der Sankt Lioba Schule und dort seit vielen Jahren im Darstellenden Spiel aktiv, die Gruppe exzellent anzuleiten, sich aber auch kreativ entfalten zu lassen.
Die Fassung des Märchens in der aufgeführten Form wurde von Georg Jung kompiliert. Er verwendete für seine Bühnenfassung in wesentlichen Teilen die alten französischen Volksmärchen von Gabrielle-Suzanne de Villeneuve (1740) bzw. Jeanne-Marie Leprince de Beaumont (1756), rückte aber die Frage nach dem Grund bzw. der Schuld des Biestes für seine Verwandlung stark in den Fokus. Die Antworten der genannten Quellen sind in dieser Hinsicht wenig prägnant. Deshalb griff er auf Neufassungen von „La Belle et la Bête“ im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts zurück, die damals zunehmende Beliebtheit fanden: In den Träumen der Schönen erfährt Belle von einem Prinzen, der seine eigene Frau, die Tochter des Waldgottes, versehentlich tötet und dafür mit seiner abstoßenden Gestalt büßen muss.
Die Reaktionen des Publikums zeigten, dass diese Cover-Version sehr geschätzt wurde, ermöglichte sie doch in ihrem Verlauf, einen bunten Reigen vieler schöner Bilder zu inszenieren. Das Biest war in dieser Fassung ein wirkliches Scheusal, groß und wild und verwandelte sich am Ende tatsächlich, dank der Figurenspieltechnik, in einen Prinzen. Die Schöne verhielt sich keineswegs allzu brav, sondern versuchte, selbst wenn die Not am größten war, noch aufzubegehren. Bei dieser Figur gab es das Problem, dass das Kleid nicht gewechselt werden konnte. Mit ein paar Kostümvariationen (genäht von Ute Koschig) gelang aber auch hier die Verwandlung der Puppe zwischen den Szenen von reich zu arm zu königlich. Die technisch größte Herausforderung bestand aber darin, die Puppen tanzen zu lassen, unausweichlich, wenn das Biest wieder zum Prinzen gewandelt ist. Also strömten am Ende zur Musik von Tschaikowsky alle Mitspielerinnen und Mitspieler auf die Bühne, umringten das tanzende Paar, ließen es verschwinden und waren am Ende wieder heiter und ausgelassen unter sich – als sei nie etwas gewesen.
Fotos: Alexander Benthaus