Wissen um die zweite deutsche Diktatur schwindet – Insiderinformationen
Nachdem die prominente DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld am Vorabend in einem öffentlichen Vortrag in der Aula der Sankt Lioba Schule die spannenden Tage auf dem Weg zur deutschen Einheit 1989/90 behandelt hatte, war der komplette Abiturjahrgang am Dienstagvormittag in den Musiksaal gekommen, um aus erster Hand mehr über diese Zeit des Umbruchs zu erfahren. Zuvor hatten Schulleiter Bernhard Marohn und Geschichtslehrer Hans Peter Wavra, auf dessen Initiative Lengsfeld eingeladen worden war, auf die Gefahr verwiesen, dass die heutigen Jugendlichen in Deutschland zu vergessen drohten, dass Deutschland im 20. Jahrhundert nach der Naziherrschaft noch eine zweite Diktatur erleiden musste.
Lengsfeld hatte ihre Ausführungen speziell auf das aus jungen Erwachsenen bestehende Auditorium zugeschnitten und setzte ganz andere Akzente als am Vorabend. Sie versprach, dass die Jugendlichen, sämtlich in einem geeinten Deutschland aufgewachsen, mit der DDR eine „versunkene Welt“ kennenlernten, die sie mit der Sage der in der Ostsee versunkenen Stadt Vineta verglich. Sie erinnerte an die Zeit des kalten Krieges, die Stationierung der SS 20-Raketen in der DDR und die Nachrüstung in der Bundesrepublik ("NATO-Doppelbeschluss"). Nach vorausgegangenen Krisen wie dem Mauerbau 1961 und der Kubakrise 1962 habe die Gefahr eines Atomkrieges durchaus konkrete Form angenommen. Mehr noch, dieser drohende Krieg hätte als ersten Kriegsschauplatz Deutschland gehabt. Etwas wie die im Westen entstandene Friedensbewegung habe ihrer Meinung nach auch die DDR gebraucht. Daher habe sie, nicht zuletzt ihrer Kinder wegen, den Entschluss gefasst, diesbezüglich tätig zu werden. Dies sei, so Lengsfeld weiter, in einem Staat, der sich voller Stolz als "Diktatur des Proletariats" bezeichnete, extrem schwierig gewesen. Die staatstragende Partei der SED hatte Opposition und Gruppenbildung verboten und es sei vielen nicht mehr bewusst, dass „die SED heute immer noch unter uns" sei, wenn auch nach diversen Umbenennungen unter dem Namen "Die Linke". Auch aus dem Spitzenpersonal seien nach 25 Jahren, was es in keiner anderen Partei gebe, mit Gregor Gysi, Sarah Wagenknecht und Dietmar Bartsch noch SED-Akteure weiter aktiv.
Lengsfeld hob die Bedeutung der evangelischen Kirche für die friedliche Revolution hervor. Honecker habe dieser die Autonomie in den eigenen Räumen zugestanden, als er mit dem Programm „Kirche im Sozialismus“ die offene Unterdrückung der Religionen beendete, um sich für den Westen „salonfähig“ zu machen. Ein Kuriosum sei die Eröffnung der neuen Synagoge gewesen, denn in der DDR hatte man alle jüdischen Gemeinden vertrieben, sodass zur Eröffnung Juden aus Westberlin und ein Rabbi aus Budapest eingeladen waren. Lengsfeld konnte noch mit weiteren Anekdoten aufwarten: Sie erwähnte, dass in den großen Kirchen mit Reden ohne Verstärkung die hinteren Aktivisten kaum erreicht werden konnten. Zufällig bot ein „freier Diskjockey“ seine Hilfe mit einer komplett neuen Anlage aus dem Westen an. Ein anderer erklärte sich bereit, mit Computer und Drucker die Verlautbarungen der Systemkritiker zu vervielfältigen. Müßig zu erwähnen, dass die freundlichen Helfer Stasi-Spitzel waren. Die mutige Dissidentin konnte auch erklären, wie der Ruf "Wir sind das Volk" zustande kam, der später das Markenzeichen der friedlichen Revolution wurde. Da die Staatsführung gegen die Systemkritiker vorgehen und deren Aktivitäten als „Rowdytum“ abqualifizieren wollte, riefen die Demonstranten zunächst: „Wir sind keine Rowdies“, bis ein Unbekannter den Ruf „Wir sind das Volk“ äußerte, was sich wie ein Lauffeuer verbreitete.
Lengsfeld machte auch die katastrophalen Lebensbedingungen in der DDR deutlich. So sei die Elbe biologisch tot gewesen, und Schulsport konnte nicht im Freien gemacht werden, wenn die Kühe auf den Weiden umfielen. Es habe für die Demonstranten auch die Gefahr bestanden, dass die DDR die Opposition mit den chinesischen Massakermethoden vom „Platz des himmlischen Friedens“ nicht nur mundtot machen wollte.
Gemeinsam mit Wavra und Oberstufenleiter Winfried Auel, der als Vertreter der Schulleitung der Referentin mit einem Präsent dankte, forderte sie den Abiturjahrgang auf, allen Versuchen, die Demokratie zu beseitigen und Freiheit und Toleranz abzuschaffen, konsequent entgegen zu treten. Fazit: Kurz vor Ende ihrer schulischen Laufbahn erlebten die jungen Frauen und Männer noch einen unvergesslichen Unterricht der besonderen Art.
Dr.Steffek