Eine Doppelstunde mit Martin Langer von der JVA Butzbach
Noch kurz vor den Sommerferien bekamen um die fünfzig Siebtklässler im Religionsunterricht Besuch von Martin Langer, Justizvollzugsbeamter und Strukturbeobachter in der Justizvollzugsanstalt (JVA) von Butzbach. Der Vortrag war Teil einer Unterrichtseinheit zum Thema „Diakonie“ und stand unter der Leitfrage: „Wie begegnet man größter Schuld mit Würde?“ Im Vorfeld hatten sich die evangelischen Schülerinnen und Schüler mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn beschäftigt und diskutiert, was Vergebung möglich macht, welche Fehler schwer zu verzeihen sind, und was uns daran hindert, gütig zu sein. Der Besuch des Insiders Langer bot nun einen realen Einblick in das Leben von Menschen, die massiv schuldig geworden sind, und in die Arbeit von Menschen, die ihnen dennoch mit Respekt begegnen.
Auf einer Luftaufnahme zeigte Langer den „umfriedeten Bereich“ der JVA Butzbach; dabei handelt es sich um ein reines Männergefängnis mit Hochsicherheitsstufe. Dort leben zurzeit 420 Gefangene hinter sechs Meter hohen Mauern, darunter auch Täter schwerster Verbrechen. Und dennoch gibt Langer den Schülerinnen und Schülern zu verstehen: „Ich bin kein Wärter. Wärter gibt’s im Zoo. Ich begleite Menschen.“ Ein Satz, der bei den Zuhörerinnen und Zuhörern noch Wochen danach besonders haften blieb.
Der Tagesablauf ist streng geregelt: Wecken um 6 Uhr, Arbeitspflicht ab 6:45 Uhr bis 15 Uhr, Zeit zum Duschen, eine Freistunde im Hof, Abendessen um 18 Uhr, Zelle ab 21 Uhr. Wer keine Arbeit hat – sei es aus psychischen Gründen oder wegen fehlender Plätze – verbringt bis zu 23 Stunden täglich in einem Raum. „Ein Mensch ist nie allein – aber oft isoliert“, sagt Langer. Die Ausstattung der Zellen ist funktional: Bett, Tisch, Toilette, Spiegel, Fernseher (wenn selbst gekauft), Playstation 2 (weil nicht internetfähig). Und doch: Die Enge, die Fremdbestimmung, das Eingesperrtsein – all das hinterlässt Spuren.
Die Siebtklässlerinnen und Siebtklässler stellten viele Fragen: „Wie gefährlich ist es, allein zu sein?“ und „Kann man sich im Gefängnis unter solchen Umständen überhaupt verändern?“. Langer berichtete von Tätowierungen als Zeichen für nationale Gruppen-zugehörigkeiten, von improvisierten dreckigen Farben und von gefährlichen synthetischen, die Aggressionen verstärkenden Drogen wie „Spice“. Viele Menschen kehren im Gefängnis und danach immer wieder zurück in vertraute Muster. Auch er selbst werde vielfach auf unterschiedlichste Weise angegriffen. Und doch erzählte Langer gleichermaßen auch von Momenten der Hoffnung – der Hoffnung mehr zu trauen als alten Gewohnheiten, etwa wenn sich die Häftlinge gut führen und Angebote für ein Weiterbildungsabendprogramm (Sprachkurse, Fotografie, Schattenzeichnen) oder Sportangebote nutzen.
„Wie kann man mit jemanden noch höflich umgehen und Hoffnung in ihn stecken, der so etwas Schlimmes getan hat?“ Ein paar Schülerfragen zielten auf dieses Spannungsfeld zwischen Tat und Mensch, das bereits im Gleichnis vom Verlorenen Sohn aufgespannt wurde. Langer sprach von der Doppelgesichtigkeit vieler Insassen, also von der Diskrepanz zwischen dem Gesicht, das die Akten zeichnen, und dem, was im Umgang sichtbar wird. Als junger Mann im Justizdienst habe er sich noch die Akten der Menschen angesehen in der Hoffnung, sich besser auf den Umgang mit ihren Lebensgeschichten voller Gewalt, Drogen und Verkettungen von Fehlentscheidungen einstellen zu können. Heute verzichtet er auf diese Vorinformationen und sagt: „Ich behandle Menschen so, wie sie mich behandeln.” Dass er die Menschen nicht nach Aktenlage behandelt, wurde von den Schülerinnen und Schülern in der Folgestunde anerkennend erwähnt. Menschen haben eben mindestens zwei Gesichter – und eines ist so wahr wie das andere auch.
„Jeder Mensch hat einen Drang nach Freiheit“, sagte Langer. Deshalb ist Flucht an sich in Deutschland nicht strafbar, wohl aber die Sachbeschädigung oder der Diebstahl, der damit immer einhergeht. Der letzte spektakuläre Ausbruch in Butzbach liegt fast 30 Jahre zurück: Ein Zirkusartist kletterte dank seiner Fähigkeiten schneller über die Mauer, als die Beamten reagieren konnten, und floh zu seiner Mutter im fahrenden Zirkus. Eine Geschichte, die fast ironisch klingt und doch von der Sehnsucht nach einem anderen Leben erzählt.
Was bleibt?
Der Vortrag verband Theorie und Wirklichkeit, Bibel und Gegenwart. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich zuvor gefragt: „Gibt es Fehler, die nicht zu verzeihen sind?“, „Was bewirkt Versöhnung?“, „Was braucht ein Mensch, um neu anfangen zu können?“ Langer gab darauf keine einfachen Antworten, aber er zeigte, dass Würde auch dort möglich ist, wo Schuld groß ist. Dass Güte neben der Strafe des Freiheitsentzugs nicht naiv, sondern notwendig ist. Und dass Diakonie nicht nur im kirchlichen Umfeld geschieht, sondern auch hinter Gefängnismauern.
Die Rückmeldungen der beiden siebten Klassen spiegeln das eindrucksvoll wider. „Ich finde es gut, dass Herr Langer die Menschen nicht nach ihrer Akte behandelt.“ „Er hat total interessant erzählt und weil er uns so viel gezeigt hat, konnte man sich alles so gut vorstellen, als wäre man dort gewesen.” „Es ist erstaunlich, dass so ein lieber Mensch wie er diesen manchmal so gefährlichen Job macht.“ „Traurig, wie einsam die Insassen sein müssen.“ „Viele haben einfach in einem Moment das Falsche getan, oder die Umstände haben sie falsch entscheiden lassen, aber sonst sind sie normale Menschen.“ „Ich hätte nie gedacht, dass so viel in eine Zelle passt – Bücher, Fernseher, Playstation …“ „Ich kannte schon einiges aus YouTube-Dokus, aber jetzt habe ich noch viel mehr verstanden.“
Besonders beeindruckt zeigten sich die Schülerinnen und Schüler von den mitgebrachten Gegenständen aus den Zellen – Tätowiermaschinen, Mini-Handys, improvisierte Werkzeuge – und von den Geschichten über Flucht, Gruppenzugehörigkeit, Drogen und Alltag im Gefängnis. Auch die berufliche Perspektive im Justizvollzug wurde von einigen Siebtklässlerinnen und Siebtklässlern als spannend empfunden. Einig waren sich alle: Herr Langer muss wiederkommen.